L-Systeme - Pflanzen
Die Baupläne der Pflanzen
Ein sehr interessanter, aber auch sehr schwieriger Schritt ist jener
vom Bürosessel in die freie Natur. Erbarmungslos übertrumpft
die Natur sämtliche bisherigen theoretischen Ergebnisse. Die geradezu
verschwenderische Vielfalt an Variationen und das chaotische Gewirr von
Stämmen, Ästen und Zweiglein kann äußerst erschreckend
wirken. Man sieht die Bäume vor lauter Wald nicht mehr.
Wir konzentrieren uns daher vorerst auf ein einzelne kleine Objekte,
die möglichst frei vom Einfluss von Nachbarn gewachsen sind.
Von welchen Faktoren hängt das Aussehen einer Pflanze ab? Was gibt
der Pflanze ihre Form, was verändert sie?
Als erstes natürlich die Erbinformation. Wir wissen ganz genau,
dass niemals aus einer Eibe eine Esche und niemals aus einer Buche eine
Birke werden kann. Die Erbmasse bestimmt Farbe und Form der Blätter,
Art der Astverzweigungen, Farbe und Struktur der Rinde, der Blüten,
des Holzes, Festigkeit und Elastizität der einzelnen Pflanzenteile,
etc. Des weiteren bestimmt sie indirekt auch die ökologische Valenz
und Potenz, d.h. die Toleranzgrenzen für Umweltfaktoren1
wie Temperatur, Licht, etc. Eine Fichte kann nicht in der Wüste überleben
und in den Alpen wird wohl niemand Dattelpalmen finden.
1Vgl. Hartmut Bick: "Ökologie", S. 10 Abs. 1.2.2.3
Gäbe es aber nur die Erbinformation und sonst keine Einflussquellen,
die auf die Form einer Pflanze wirken, so müssten alle Eschen auf
der Welt einander gleich sein. Und das ist nicht der Fall. Das zweite formgebende
Element ist die physische Umgebung, in der eine Pflanze aufwächst.
(Vgl. Kapitel "Was ist Wachstum", Bild N°
1) Diese beinhaltet Komponenten wie Temperatur, Licht, Bodenbeschaffenheit,
Wassermenge, etc. aber auch "grobe" physische Ereignisse wie etwa Wildschäden,
Schneeschäden und das Eingreifen des Menschen zählen dazu. (Bild
N° 1)
Zu beachten ist allerdings, dass immer in erster Linie die genetische
Information den Wachstumsverlauf bestimmt, der dann nachträglich von
Umwelt verändert wird.
Bild N° 1: Erbe und Umwelt
Analog dazu wollen wir versuchen, zuerst von den genetischen Gegebenheiten auszugehen und dann nachträglich Umwelt"stör"einflüsse in die Konstruktion einzubauen.
Bild N° 2: Beschädigung zweier Erlen durch den Lawinenwinter 1999
Wie würde sich ein Baum oder sonst eine Pflanze im Labor entwickeln,
wenn sie in einer Isolationskammer wächst, in der absolut konstante,
optimale Bedingungen herrschen? Gleiches Licht von allen Seiten, gleiche
Temperatur, Luftfeuchtigkeit, etc.? Sie würde ausschließlich
nach ihrer genetischen Programmierung wachsen und wäre damit die ideale
Grundlage für unser Modell. Eine gewisse Zeit lang ist auch das Wachstumsbild
der Pflanzen in der Natur hauptsächlich von der Genetik bestimmt,
solange bis ein Umweltfaktor genügend stark wird, um das Wachstum
in eine andere Richtung zu bewegen oder es an einer Stelle zu verstärken
oder zu hemmen.
Wir haben eine Reihe junger, noch "unverdorbener" Bäumchen und
Pflanzen in den hiesigen Wäldern aufgespürt und fotografiert:
Bild N° 3: Junger Ahorn
Auf diesem Bild ist unschwer das simple Konstruktionsprinzip des Ahorns zu erkennen: Zwei Blattstengel treten immer gegenständig aus dem Stämmchen hervor, wobei sie sich jeweils um 90° versetzen. Nach oben hin werden die Zweige sowie die Abstände zwischen den Zweigansätzen kleiner. In der Botanik nennt man diese Wachstumsform eine dekussierte Blattstellung. Sie ist eine häufige und die einfachste und am leichtesten erkennbare Form. Eschen, Ahorne, Kastanienbäume, Flieder, und noch eine ganze Schar von Pflanzen sind nach diesem Muster aufgebaut.
Bild N° 4: Dekussierte Blattstellung beim Holunder
Auch bei mehrjährigen Pflanzen ist deutlich zu sehen, dass die Astansätze denen der Blätter gleich sind. Man kann ebenfalls gut erkennen, dass sich die Äste gleich verhalten wie der Stamm, d.h. ebenfalls eine dekussierte Blattstellung aufweisen.
Bild N° 5: Berberitze Berberis vulgaris
Wesentlich unübersichtlicher erscheint dieser Berberitzenzweig.
Die Stellung der Dornen und Blätter ist jedoch beinahe ebenso leicht
zu berechnen wie bei den Pflanzen mit dekussierter Blattstellung. Wir haben
den nebenstehend abgebildeten Zweig mit einfachen Hilfsmitteln vermessen
und sind auf folgende Resultate gestoßen:
Die Abstände zwischen den Dornansätzen werden, wie das gut
zu erkennen ist, nach oben hin immer kleiner. Auffallend ist, das die Abstände
zwar im obersten Viertel konstant kleiner werden, in den unteren drei Vierteln
jedoch relativ gleich bleiben. Sie betragen etwa 2,5cm (+/- 0,3cm) vom
1. bis 30. Dorn und weiter oben zwischen 2,2cm (30. - 31. Dorn) und 0,9cm
(42. - 43. Dorn). Dasselbe gilt auch für die Länge der Dornen.
In den unteren drei Vierteln bewegt sich die Länge zwischen 2,9 und
3,6cm bei fast ausschließlich dreiteiligen Dornanlagen, im obersten
zwischen 2,9 und 0,7cm bei immer mehr zwei- und einteiligen Dornanlagen.
Ebenfalls die Dicke des Triebes nimmt nur im obersten Viertel ab. Daraus
ist zu schließen, dass der Wachstumsprozess im unteren Teil des Zweiges
abgeschlossen ist und nur noch an der Spitze stattfindet.
Des weiteren haben wir festgestellt, dass der Winkel, den zwei aufeinanderfolgende Dornanlagen entlang der Hauptachse bilden, stets gleich groß ist. Jeweils der erste, der vierzehnte und der siebenundzwanzigste Dorn ist gleich orientiert, d.h. jeder dreizehnte. Summiert man von unten nach oben die ersten 13 Winkel auf, so erhält man fünf Umdrehungen oder 1800° im Gegenuhrzeigersinn. Daraus können wir einen theoretischen Winkel von 138° 23' 41" zwischen den Anlagen errechnen (1800° / 13). Man nennt diesen Winkel Divergenzwinkel.
Bild N° 6: Divergenzwinkel
Eine kultivierte Berberitzenart (Berberis aggregata) zeigt acht positive Umdrehungen von der ersten bis zur 14. Dornanlage. Der Divergenzwinkel von Berberis aggregata beträgt also 8 * 360° / 13 = 221° 36' 19" und ist damit der genaue Komplementärwinkel zu dem von Berberis Vulgaris. Bei beiden Berberitzenarten sind die Dornansätze identisch mit den Blattansätzen.
Bei der Hundsrose ist jeder achte Blattansatz gleich orientiert. Die
ersten acht Winkel ergeben eine Summe von fünf Umdrehungen, der Divergenzwinkel
beträgt demzufolge 5 / 8 * 360°. Beim Ginster ist es jeder fünfte
bei 3 Umdrehungen.
Wir beschreiben die Spiralige Blattstellung formal mit zwei Zahlen.
Die erste gibt an, nach wievielen Blattansätzen jeweils die Stellung
von 0° erreicht wird. Die zweite steht für die Anzahl der positiven
Umdrehungen. Es gilt also:
Berberis Vulgaris 13 : 5
Berberis aggregata 13 : 8
Hundsrose 8 : 5
Ginster 5 : 3
Dem eingefleischten Mathematiker fallen diese Zahlen natürlich sofort auf: Es handelt sich hierbei um die berühmte Fibonacci-Folge. Wir erläutern im Folgenden einige interessante Eigenschaften dieser Zahlenfolge.
Exkurs N° 10: Fibonacci-Zahlen
Einen letzten Konstruktionstypus, den wir kurz
vorstellen, ist die eher seltene quirlige (oder wirtelige) Blattstellung.
Diese zeichnet sich dadurch aus, dass an einer Blattansatzstelle der Hauptachse
gleich drei oder mehrere Sprosse austreiben. Bekanntere Beispiele sind
der Schachtelhalm, das Labkraut, der Waldmeister oder die eher seltene
Vierblättrige Einbeere. Wir unterscheiden zwischen einer echten und
einer unechten quirligen Blattstellung.
Bei der unechten sind im Gegensatz zu den anderen Blattstellungstypen
die Blattansätze nicht mehr mit den Zweigansätzen identisch.
Die Zahl der Blätter bewegt sich meist von vier aufwärts, häufig
sind es acht oder zwölf. Die Zahl der Zweige übersteigt jedoch
selten drei (z.B. Echtes Labkraut).
Die echte quirlige Blattstellung ist eine der ältesten Blattstellungen
der Evolutionsgeschichte, wenn nicht die älteste überhaupt. Sie
kommt am häufigsten bei Archegoniaten, d.h. Bei Pflanzen mit
Generationswechsel vor, namentlich der Klasse der Equisetinae (Schachtelhalme).
Die betreffenden Pflanzen bilden im Normalfall nur eine Hauptachse, an
der in quirliger Anordnung Zweige ohne weitere Teilung sitzen. Es kommt
aber auch vor, dass sich wie z. B. beim äußerst seltenen Rauhen
Hornblatt sowohl die Hauptachse als auch die Blätter ein- oder zweimal
teilen.
Nachdem wir nun die wichtigsten Blattstellungstypen kennengelernt haben, wenden wir uns einem anderen Problem zu: Betrachtet man das Wachstum einer simplen Blütenpflanze, z.B. das des Weidenröschens (Epilobium Hirsutum), so stellt man fest, dass die Pflanze eine Weile in die Höhe wächst und dabei nur Blätter ansetzt. Dasselbe gilt für das Knabenkraut (Bild N° 7). Erst ab einem gewissen Zeitpunkt bildet sie Knospen und dann auch Blüten. Wir müssen also davon ausgehen, dass entweder
- die Pflanze selber das Produzieren der Knospen auf irgend eine Art und Weise "befohlen" hat, oder
- außerhalb der Pflanze ein Ereignis die Pflanze zu dieser Reaktion veranlasst hat.
Bild N° 7: Knabenkraut
In beiden Fällen muss eine biochemische Reaktion in der Spitze
der Pflanze stattfinden, die sie dazu veranlasst, Blütenknospen zu
bilden.
Bei anderen Pflanzen, z.B. beim Holunder tritt derselbe Effekt bei
den Blattansätzen auf: Eine Weile wächst der Haupttrieb geradeaus
und bildet dabei Blätter (in dekussierter Stellung). Nach einiger
Zeit beginnen an den unteren und mittleren Blattansätzen neue Triebe
zu sprießen. (Knapp oberhalb der Blattansätze). Diese neuen
Triebe zweiter Ordnung verhalten sich dann gleich wie der Haupttrieb.
Diese Beobachtungen zeigen, dass die betreffenden Pflanzen über
eine Art von Kommunikationssystem verfügen müssen, das Reize
wahrnimmt und diese zu Signalen verarbeitet oder selber Signale erzeugt.
Anders als bei Tieren findet diese Verarbeitung nicht an einem zentralen
Ort (Gehirn) statt, sondern im ganzen Korpus. Nachrichten werden meistens
in Form von pflanzlichen Hormonen oder Botenstoffen gesandt.
Dabei ist zu unterscheiden zwischen Signalen, die von der Spitze ausgehen und solchen, die von der Basis der Pflanze ausgehen. Basissignale steigen von unten nach oben und gelangen so in alle Verzweigungen und Seitenäste der Pflanze. Das von oben kommende Signal hat immer nur einen Weg offen: Entlang der Hauptachse zur Basis.
Die sechs wichtigsten dieser Phytohormongruppen sind2: Abscisinsäure, Auxine, Cytokinine, Ethylen, Gibberelline und Jasmonate.
Sie sind im Wesentlichen für Krümmungen, Verzweigungen, Wachstumsförderung und -hemmung, Blütenbildung... verantwortlich.
2Aus Hensel, Wolfgang: "Planzen in Aktion", S. 40
Jedes Lebewesen hat sein eigenes Repertoire an Reizen, die es wahrnehmen
kann und auf die es dementsprechend reagiert. So auch jede Pflanze. Als
Sensoren für die Reizaufnahme können entweder spezifische Organe
dienen (z.B. Tasthärchen, Blätter) oder der ganze Organismus.
Die wichtigsten dieser Reize sind wohl das Licht und die Gravitation,
die in einer natürlichen Umgebung quasi allgegenwärtig sind.
Aber auch Wasser, chemische Stoffe, Elektrizität, Berührungen,
Verletzungen und Erschütterungen können Reize sein. Man kennt
sogar einen Fall, in dem Magnetismus als Reiz dient.
Neben der Reizart ist auch noch die Qualität eines Reizes (Stärke,
Richtung, ...) sowie seine Dauer von großer Bedeutung.
Zu den Reaktionen. Für des Überleben einer Pflanze ist es
dringend notwendig, dass sie auf empfangene Reize entsprechend reagiert
und sich so den Umweltbedingungen anpasst. Viele dieser Reaktionen sind
aber mit bloßem Auge nicht beobachtbar, da sie rein innerlich, im
Mikrobereich geschehen. Andere Reaktionen lösen aber Bewegungen aus,
die nicht zu übersehen sind. Diese sind für uns von besonderem
Interesse.
Grundsätzlich gelten für alle Bewegungen der Pflanzen drei
wesentliche Kriterien: Endogen oder Exogen, Reversibel oder Irreversibel,
Tropismus oder Nastie.
Begriff | Erklärung | |
---|---|---|
Endogen | Der Reiz wird von der Pflanze selbst produziert. | |
Exogen | Ein außenstehender Umweltreiz veranlasst die Pflanze zur Reaktion. |
|
Reversibel |
Die Bewegung geschieht durch Änderung des Turgordrucks (Flüssigkeitsdruck innerhalb der Zellen) und ist damit umkehrbar. |
|
Irreversibel |
Die Bewegung geschieht durch Wachstum oder Wachstumshemmung an gewissen Stellen. Diese Bewegung ist dann nicht mehr rückgängig zu machen. |
|
Tropismus |
Die Richtung, in die sich die Reaktion auswirkt, hängt von der Richtung des Reizes ab. Dabei kann man differenzieren zwischen positivem Tropismus (Pflanze bewegt sich zur Reizquelle) oder negativem Tropismus (Pflanze meidet Reizquelle). |
|
Nastie |
Die Richtung, aus der ein Reiz kommt, hat keinen Einfluss auf die Reaktionsrichtung. |
Man spricht z.B. von (irreversiblem) Phototropismus, wenn eine Pflanze dem Licht entgegenwächst. Bei der Mimose, die ihre Blätter blitzartig hängen lässt, sobald man diese berührt, ist von einer (reversiblen) Traumatonastie zu sprechen (Trauma = Verletzung).
Bild N° 8: Phototropismus