Philosophische Gedanken
...und nun wachset
und vermehret euch.
Genesis 1, 28
Was ist Wachstum?
Was fällt ihnen als Erstes ein, wenn sie das Wort "Wachstum" hören?
Vielleicht ein konkreter Gegenstand - eine Pflanze? - ein Tier? - ein Mensch?
oder die Mathematik; Exponentialrechnungen, Wachstumsfunktionen etc.? oder
ein Crescendo in der Musik? oder geistiges, seelisches Wachstum?
Das sind nur wenige von vielen Möglichkeiten. Wachstum im weitesten
Sinne ist überall anzutreffen, jede wissenschaftliche Disziplin hat
sich damit in irgend einer Form zu befassen.
Wer das Wort "Wachstum" zu definieren versucht, denkt zunächst einmal an "Größer werden", an Vergrößerung, an Volumen- und Massenzunahme. Es ist offensichtlich, dass die Vergrößerung ein zwingendes Element des Wachstums ist. Nur mit Vergrößerung ist es aber sicherlich nicht getan.
Was also unterscheidet Wachstum von bloßer Vergrößerung? Gibt es überhaupt eine klare Definition von Wachstum? - oder gibt es eine Grauzone zwischen dem eindeutigen Ja und dem eindeutigen Nein, in der manche Kriterien des Wachstums erfüllt sind und manche nicht? Wir wollen versuchen, die Antworten auf diese Fragen in der Natur zu finden (und nicht hinter vier Wänden zu er-finden).
Ein ausgedehnter Spaziergang durch den Wald lehrt folgendes:
- Nicht alles was wächst lebt, aber alles was lebt wächst. Wenn etwas Lebendiges nicht wachsen würde, so bliebe es immer in demselben Zustand und hätte keine Möglichkeit sich fortzupflanzen. Allerdings können tote Objekte wie z.B. Kristalle wachsen ohne zu leben.
- Nichts wächst ewig und nichts wächst auf eine unendliche Größe. Früher oder später erreicht jedes wachsende Objekt die Größe, in der das "physikalische Limit" erfüllt ist. Ein 500 Meter hoher Baum würde unter seiner eigenen Last zusammenbrechen. (Siehe Exkurs: Das physikalische Größenlimit)
- Was wächst vermehrt sich oder pflanzt sich fort. (Wir sprechen von Vermehrung auf zellulärer Ebene und von Fortpflanzung auf organischer Ebene.) Wäre dem nicht so, so würde das Leben auf der Erde bald verschwinden. Die Vermehrung ist eine logische Folge des physikalischen Größenlimits.
- Variantenreichtum. Sämtliche wachsenden Formen existieren in zig Tausenden von verschiedenen Varianten. Den Grund dafür beschieb Charles Darwin in seinem Buch "Die Entstehung der Arten" bereits 1859: Der Generationszyklus funktioniert zwar meistens perfekt, aber manchmal entstehen kleine Fehler. Daher können wir als eine Begleiterscheinung des Wachstums Mutation und Selektion beobachten.
- Was wächst, kämpft um Raum; Raum ist das Medium des Wachstums und der Wachstumsverlauf ist abhängig von Ort und Lage. Das folgende Bild zeigt dies recht eindrücklich. (Bild N° 1)
Bild N° 1: Von der Schneelast gestauchte Lärche
Exkurs N° 2: Das physikalische Größenlimit
Weitere Beobachtungen lassen sich bildlich zusammenfassen.
Bild N° 3 zeigt den direkten Vergleich zwischen Vergrößerung
und Wachstum graphisch und offenbart zwei weitere sehr wichtige Unterschiede.
Die blauumrandete Figur stellt schematisch einen einfachen Organismus
dar, der aus roten Körperzellen und blauen Mantelzellen besteht.
Bild N° 3: Vergrößerung vs. Wachstum
Wo im ersten Schritt bei der Vergrößerung eine reine Skalierung
des Musters stattfindet, ist es beim Wachstum eine Erweiterung desselben.
Bei der Vergrößerung ändert sich die Größe der
Bausteine des Organismus, beim Wachstum ihre Anzahl. Wir werden im Kapitel
"Muster, Materie und Selbstorganisation" diese Eigenschaft genauer erläutern.
Im zweiten Schritt ist zu erkennen, dass beim Wachstum aus einem großen
Organismus mehrere kleine entstehen, während bei der Vergrößerung
wiederum eine einfache Skalierung des Originals vorliegt. Daraus ergibt
sich eine weitere sehr wichtige Eigenschaft des Wachstums: Die Rekursivität.
Es entstehen von Generation zu Generation immer wieder etwa die selben
Formen. Nur die Anzahl der Objekte wächst. Das ist, in Bezug auf eine
ganze Population gesehen, dasselbe wie die Zellvermehrung in Bezug auf
einen einzelnen Organismus.
Wir können damit theoretische Klassen oder Ordnungsstufen von
verschiedenen Wachstumsniveaus bilden. Ein Element einer Ordnung leitet
sich vom größtmöglichen Teil ab, den man einem Element
der nächsthöheren Ordnung ohne dessen Beschädigung als Ganzes
entfernen kann. Dabei sind auch Zwischenstufen möglich. (Bild N° 4)
Bild N° 4: Ordnungsstufen beim Wachstum
Eine Zelle (Ordnung 1) wächst, wenn die Anzahl der Moleküle
(Ordnung 0), aus der sie besteht, zunimmt. Ein Organismus (Ordnung 2) wächst,
wenn die Anzahl der Zellen (Ordnung 1) zunimmt. Eine Population (Ordnung
3) wächst, wenn die Anzahl der Organismen (Ordnung 2) zunimmt. Drei
völlig unterschiedliche Bilder. Dreimal dasselbe Prinzip.
Es mag zwar etwas komisch erscheinen von Wachstum auf molekularem Niveau
zu sprechen, aber man darf nicht vergessen, dass alle Vorstellungen dieser
Vorgänge, die wir haben, nichts als Modelle sind. In Wirklichkeit
hat noch niemand die Struktur und das Verhalten von Atomen und Molekülen
mit eigenen Augen betrachtet.
Der folgende Versuch einer Definition entspricht den bisherigen Aussagen.
Definition:
Wachstum ist die räumliche Erweiterung eines Objekts aufgrund
der kontinuierlichen Zunahme der Anzahl seiner Bestandteile der nächstkleineren
Ordnung während einer gewissen Zeit ohne gezielte äußere
Einflüsse. Diese Zunahme kann entweder direkt durch Addition oder
durch Vermehrung oder Fortpflanzung (d.h. ebenfalls durch Wachstum) geschehen.
Erreicht das Objekt eine kritische Größe, so hört es
entweder auf zu wachsen oder es teilt sich in ein oder mehrere Teile.
Interessant ist die Beobachtung, dass, wenn die Zunahme der Elemente der kleineren Ordnung durch Wachstum (also Vermehrung oder Fortpflanzung) geschieht, zwischen den Ordnungen immer zwei Zwischenstufen entstehen. Bei einer simplen Addition ist das nicht der Fall.
Zusammenfassend können wir folgende Kriterien zum Erkennen von Wachstum aufstellen:
- Eingeschränkte Maximalgröße des wachsenden Objekts
- Vermehrung und Variantenreichtum
- Kampf um Raum / Formprägung durch den Raum
- Massenzunahme durch Erweiterung des Musters
- Rekursivität
Als Synthese dieses Kapitels bleibt nur noch anzufügen, dass Wachstum ein Begriff ist, der nach unserer Definition niemals als Ganzes erfasst werden kann. Wachstum hat eine verschachtelte, rekursive Struktur die uns entweder nach "oben" oder nach "unten" drängt. Entweder hin zur Frage "Aus was wachsen die Moleküle?" und falls wir diese beantworten "Aus was wachsen die Teile der Moleküle?", etc. oder hin zur Frage "Was wächst aus einer Population?", "Was wächst aus der Menschheit?"