Philosophische Gedanken

...und nun wachset
und vermehret euch.

Genesis 1, 28

Was ist Wachstum?

Was fällt ihnen als Erstes ein, wenn sie das Wort "Wachstum" hören? Vielleicht ein konkreter Gegenstand - eine Pflanze? - ein Tier? - ein Mensch? oder die Mathematik; Exponentialrechnungen, Wachstumsfunktionen etc.? oder ein Crescendo in der Musik? oder geistiges, seelisches Wachstum?
Das sind nur wenige von vielen Möglichkeiten. Wachstum im weitesten Sinne ist überall anzutreffen, jede wissenschaftliche Disziplin hat sich damit in irgend einer Form zu befassen.

Wer das Wort "Wachstum" zu definieren versucht, denkt zunächst einmal an "Größer  werden", an Vergrößerung, an Volumen- und Massenzunahme. Es ist offensichtlich, dass die Vergrößerung ein zwingendes Element des Wachstums ist. Nur mit Vergrößerung ist es aber sicherlich nicht getan.

Was also unterscheidet Wachstum von bloßer Vergrößerung? Gibt es überhaupt eine klare Definition von Wachstum? - oder gibt es eine Grauzone zwischen dem eindeutigen Ja und dem eindeutigen Nein, in der manche Kriterien des Wachstums erfüllt sind und manche nicht? Wir wollen versuchen, die Antworten auf diese Fragen in der Natur zu finden (und nicht hinter vier Wänden zu er-finden).

Ein ausgedehnter Spaziergang durch den Wald lehrt folgendes:

Lärche

Bild N° 1: Von der Schneelast gestauchte Lärche

Exkurs N° 2: Das physikalische Größenlimit

Weitere Beobachtungen lassen sich bildlich zusammenfassen. Bild N° 3 zeigt den direkten Vergleich zwischen Vergrößerung und Wachstum graphisch und offenbart zwei weitere sehr wichtige Unterschiede. 
Die blauumrandete Figur stellt schematisch einen einfachen Organismus dar, der aus roten Körperzellen und blauen Mantelzellen besteht.

vergrößern / wachsen

Bild N° 3: Vergrößerung vs. Wachstum

Wo im ersten Schritt bei der Vergrößerung eine reine Skalierung des Musters stattfindet, ist es beim Wachstum eine Erweiterung desselben. Bei der Vergrößerung ändert sich die Größe der Bausteine des Organismus, beim Wachstum ihre Anzahl. Wir werden im Kapitel "Muster, Materie und Selbstorganisation" diese Eigenschaft genauer erläutern.
Im zweiten Schritt ist zu erkennen, dass beim Wachstum aus einem großen Organismus mehrere kleine entstehen, während bei der Vergrößerung wiederum eine einfache Skalierung des Originals vorliegt. Daraus ergibt sich eine weitere sehr wichtige Eigenschaft des Wachstums: Die Rekursivität. Es entstehen von Generation zu Generation immer wieder etwa die selben Formen. Nur die Anzahl der Objekte wächst. Das ist, in Bezug auf eine ganze Population gesehen, dasselbe wie die Zellvermehrung in Bezug auf einen einzelnen Organismus.
Wir können damit theoretische Klassen oder Ordnungsstufen von verschiedenen Wachstumsniveaus bilden. Ein Element einer Ordnung leitet sich vom größtmöglichen Teil ab, den man einem Element der nächsthöheren Ordnung ohne dessen Beschädigung als Ganzes entfernen kann. Dabei sind auch Zwischenstufen möglich. (Bild N° 4)

Wachstumsordnungen

Bild N° 4: Ordnungsstufen beim Wachstum

Eine Zelle (Ordnung 1) wächst, wenn die Anzahl der Moleküle (Ordnung 0), aus der sie besteht, zunimmt. Ein Organismus (Ordnung 2) wächst, wenn die Anzahl der Zellen (Ordnung 1) zunimmt. Eine Population (Ordnung 3) wächst, wenn die Anzahl der Organismen (Ordnung 2) zunimmt. Drei völlig unterschiedliche Bilder. Dreimal dasselbe Prinzip.
Es mag zwar etwas komisch erscheinen von Wachstum auf molekularem Niveau zu sprechen, aber man darf nicht vergessen, dass alle Vorstellungen dieser Vorgänge, die wir haben, nichts als Modelle sind. In Wirklichkeit hat noch niemand die Struktur und das Verhalten von Atomen und Molekülen mit eigenen Augen betrachtet.

Der folgende Versuch einer Definition entspricht den bisherigen Aussagen.

Definition:

Wachstum ist die räumliche Erweiterung eines Objekts aufgrund der kontinuierlichen Zunahme der Anzahl seiner Bestandteile der nächstkleineren Ordnung während einer gewissen Zeit ohne gezielte äußere Einflüsse. Diese Zunahme kann entweder direkt durch Addition oder durch Vermehrung oder Fortpflanzung (d.h. ebenfalls durch Wachstum) geschehen.
Erreicht das Objekt eine kritische Größe, so hört es entweder auf zu wachsen oder es teilt sich in ein oder mehrere Teile.

Interessant ist die Beobachtung, dass, wenn die Zunahme der Elemente der kleineren Ordnung durch Wachstum (also Vermehrung oder Fortpflanzung) geschieht, zwischen den Ordnungen immer zwei Zwischenstufen entstehen. Bei einer simplen Addition ist das nicht der Fall.

Zusammenfassend können wir folgende Kriterien zum Erkennen von Wachstum aufstellen:

Als Synthese dieses Kapitels bleibt nur noch anzufügen, dass Wachstum ein Begriff ist, der nach unserer Definition niemals als Ganzes erfasst werden kann. Wachstum hat eine verschachtelte, rekursive Struktur die uns entweder nach "oben" oder nach "unten" drängt. Entweder hin zur Frage "Aus was wachsen die Moleküle?" und falls wir diese beantworten "Aus was wachsen die Teile der Moleküle?", etc. oder hin zur Frage "Was wächst aus einer Population?", "Was wächst aus der Menschheit?"