Philosophische Gedanken

Der beste Romanschreiber
aller Zeiten ist der Zufall.
Um fruchtbar zu sein
muss man ihn studieren.

Honoré de Balzac

Zufall, Determinismus und Berechenbarkeit

Wie bereits aus dem vorigen Kapitel hervorgeht, ist ein Wachstumsprozess eng an die ihn umgebende Natur gebunden. Sie entscheidet zu einem großen Teil über die entstehenden Formen. Viele dieser Einflüsse sind weitgehend zufälliger Natur.
Was ist Zufall? Die antike Philosophie gibt uns auf diese Frage zwei Antworten1: Zufall kann bedeuten: 1. Was weder durch eine Wirk- noch durch eine Zielursache bestimmt ist (absoluter Zufall) oder 2. Was zwar eine Wirkursache, aber keine Zielursache hat (relativer Zufall).

Der absolute Zufall steht im totalen Widerspruch zur Lehre der Kausalität: Ein Ereignis, das zwar keine Ursachen aber doch Auswirkungen hat, ist physikalisch nicht möglich und übersteigt unser Vorstellungsvermögen.
Der relative Zufall kann als "unbeabsichtigte" Nebenwirkung einer gewollten Tat verstanden werden oder als eine Wirkung, die durch das Zusammentreffen mehrerer Wirkursachen entsteht, die weder naturhaft, noch durch eine fremde Ursache auf dieses Zusammentreffen eingestellt sind.

Ein Spieler würfelt mit einem Würfel dreimal hintereinander eine Sechs. Den Würfel zu werfen, ist eine gewollte Tat. Die Nebenwirkung, d.h. die Zahl der Augen ist nicht kontrollierbar und damit eine unbeabsichtigte Nebenwirkung. Man kann deshalb von relativem Zufall sprechen. Dasselbe gilt für alle "klassischen" Probleme wie Würfel, Karten und Kügelchen in der Urne.

Wenn jemand durch einen "glücklichen Zufall" einen Hundertfrankenschein auf der Straße findet, so ordnen wir dieses Ereignis ebenfalls dem relativen Zufall zu. Die beiden Wirkursachen, nämlich der Ort, an dem das Geld verloren wurde, und der Weg, den der Finder zurückgelegt hat, sind in keiner Weise aufeinander abgestimmt.
Diese Antwort auf die Frage "Was ist Zufall" hat geschichtlich am längsten hingehalten: Von der Antike bis hin ins 18. Jahrhundert.

Nach der Veröffentlichung von Newtons’ und Leibniz’ Infinitesimalrechnungen um 1700 setzte ein wahrer Rausch in der Wissenschaft ein. Kein Problem war mehr unlösbar. Die Infinitesimalrechnung galt als universeller Schlüssel zur Physik. Weitere Erkenntnisse und Publikationen, denen die Newtonschen Arbeiten zugrunde lagen, folgten Schlag auf Schlag. Das wirkte sich auch stark auf andere wissenschaftliche Disziplinen und auf die Philosophie aus:
Würfeln ist zwar das Schaubild des Zufallsprinzips, aber ist denn dabei wirklich Zufall im Spiel? Fragt sich der Philosoph oder Physiker des 18. und 19. Jahrhunderts. Ist denn nicht das Verhalten des Würfels durch eindeutige physikalische Gesetze festgelegt? Und der glückliche Finder läuft sicherlich nicht nach dem Zufallsprinzip durch die Straßen.

1Aus: Walter Brugger, Philosophisches Wörterbuch, S. 398    [zurück]


Im 19. Jahrhundert erdachte der französische Mathematiker und Astronom Pierre Simon Laplace (* 28.7.1749 in Beaumont-en-Auge, † 5.3.1827 in Paris) einen imaginären Geist, der heute Laplacescher Dämon genannt wird. Dieser Geist soll in der Lage sein in einem gasgefüllten Würfel Lage und Impuls jedes Moleküls sowie alle Randbedingungen zugleich zu erfassen und daraus die Strömungen des Gases vorauszuberechnen.

Anstatt des Gases könnte man auch eine Flüssigkeit oder einen festen Gegenstand in den Würfel geben. Oder man könnte auch eine Maus oder einen Affen in den Würfel stecken und ihr Verhalten einfach dadurch berechnen, in dem man den Weg jedes Atoms berechnet. – Oder einen Menschen – .

Der Laplacesche Dämon ist ein anschauliches Modell für die Idee des absoluten Determinismus. Determinismus heißt totale Vorausberechenbarkeit. Ein deterministisches Weltbild lässt weder Zufall, noch freien Willen, noch Gott zu.

Im 20. Jahrhundert musste dieses Weltbild von zwei Seiten her starke Schläge einfangen: Nach 1900 lehrte die von Max Planck ins Leben gerufene Quantenmechanik, dass das gleichzeitige Bestimmen von Lage und Impuls eines Atoms unmöglich ist. Ebenfalls von der Quantentheorie her wissen wir, dass im atomaren und subatomaren Bereich zwar noch die Kausalität gilt, aber nicht mehr der Determinismus. (Albert Einsteins Kommentar dazu: "Gott würfelt nicht!") Somit ist das einfache Berechnen eines Atomweges nicht mehr möglich.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dem Berechnungswahn mit dem Aufkommen der Chaostheorie endgültig ein Ende gesetzt. Mehrere Mathematiker (unter ihnen der Meteorologe und Mathematiker Edward Lorenz) zeigten, dass selbst streng deterministische Systeme nicht beliebig berechenbar sind. Wir erläutern dies am Beispiel des Rössler-Attraktors.

Exkurs N° 3: Der Rössler-Attraktor

Dass sensitive Systeme nicht nur im Computer existieren, bekommen wir des öfteren am eigenen Leib zu spüren: Nämlich genau dann, wenn der Fernsehermann Nässe und Regen predigt und draußen ungetrübt und munter die Sonne weiterscheint. Eine Wettervoraussage für einige Tage (oder Stunden) ist zwar möglich, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch stimmt, nimmt mit jedem Tag rapide ab. Edward Lorenz bewies, dass Langzeitwetterprognosen technisch niemals realisierbar sein werden. Das Wettergeschehen auf der Erde ist eines der sensitivsten und komplexesten Systeme überhaupt. Zitat2: "Schon der Flügerschlag eines Schmetterlings über Hong-Kong kann einen Orkan über Alaska auslösen."

Der momentane Stand der Wissenschaft ist also:

Das heißt...

...um nur einige zu nennen.

Nachdem wir aufgeführt haben, was wir alles nicht können, drängt sich die Frage auf, was wir denn überhaupt noch können. Um auf das Beispiel des Rössler-Attraktors zurückzukommen: Wenn auch nicht eine einzelne Bahn, so doch das Gesamtsystem lässt sich untersuchen. Obwohl sich einzelne Bahnen sensitiv und chaotisch verhalten, formen sie sich zu einem Ganzen zusammen, das in seiner Gesamtheit klare Regeln erkennen lässt. Ordnung im Chaos.
Diese Ordnung lässt sich mit etwas Geschick aus jedem sensitiven System herausfiltrieren. So können in der turbulenten, sensitiven Strömung einer Flüssigkeit (z.B. eines Wildbachs) überall mehr oder weniger gleichförmige Wirbel  oder  Wellen auftreten, die alle etwas Gemeinsames haben. Und diesem "Gemeinsamen" wollen wir im nächsten Kapitel zuleibe rücken.

2Von dieser berühmten Metapher stammt auch der Begriff "Schmetterlings-Effekt", der dasselbe wie Sensitivität bedeutet.      [zurück]


Zum Schluss stellt sich uns aber noch ein praktisches Problem: Wie sollen wir einem Computer, einer Maschine, die im Grunde nur addieren kann, Zufallszahlen entlocken? Zufallszahlen sind für eine ganze Menge von stochastischen Rechenverfahren und auch für einige von unseren Programmen unbedingt nötig. Und das nicht nur ein oder zwei oder zehn, sondern zig- Millionen, und das bei einer Geschwindigkeit von einigen Tausenden pro Sekunde?
Das ist zu viel um eine Liste zufälliger Zahlen zu speichern und zu schnell für eine mechanische Lösung. Der Computer muss die Zufallszahlen berechnen. Wir können daher auch hier nicht von einem absoluten Zufall reden.
Wie sieht denn nun die "Zufallsrechnung" aus? Vereinfacht etwa so: Man denke sich eine Zahl zwischen 1000 und 9999 ( z.B.: 5555 ) und quadriere sie ( = 30858025). Das ergibt eine neue Zahl mit 5 oder 6 Stellen. Man streiche die letzten beiden Ziffern ( ...25 ) und benutze nun die letzten vier Ziffern ( 8580 ) als neuen Startwert, den man wiederum quadriert...
Dieses Verfahren ergibt folgende Liste von "Zufallszahlen"

5555, 8580, 6164, 9948, 9627, 6791, 1176, etc.

Der echte Vorgang ist natürlich noch etwas ausgefeilter, aber im Prinzip derselbe.
Zum Bedienen der Zufallsmaschinerie gibt es in BASIC die Befehle Randomize und Rnd( ) (siehe Vocabular). Der Computer beginnt bei jedem Neustart des Programms mit derselben Startzahl und gibt so auch immer die selbe Zahlenfolge aus. Um dies zu vermeiden, haben wir die folgende Routine in einige von unseren Programmen eingebaut. Sie verwendet die aktuelle Zeit, um eine gewisse Anzahl mal die nächste Zufallszahl in der Folge zu berechnen. Wenn dann der eigentliche Programmablauf beginnt, ist die Startzahl eine jedesmal andere.

Sub Zufall()

Dim Zahl As Integer, i As Integer

'Zahl und i als Integer definieren

Zahl = Minute(Time)*60 + (Second(Time))

'Zahl = Minute*60 + Sekunde der aktuellen Zeit

For i = 0 To Zahl

Randomize   'Berechne nächste Zufallszahl

Next i

End Sub

Wir haben also das, was die Philosophie als relativen Zufall bezeichnet, in der Praxis ausgenützt. Der genaue Zeitpunkt, in dem wir das Programm starten, ist eine Wirkursache, die in keiner Weise mit dem eigentlichen Programm zu tun hat.