Anmerkung zur Theorie des unterbrochenen Gleichgewichts
Von Jörg Peter Ewert:
"Neurobiologie des Verhaltens", Hans Huber Verlag, Bern 1998,
ISBN 3-456-82994-9
Darwin vermutete, dass die Evolution einen stetigen langsamen (graduellen)
Prozess darstellt. Problematisch ist jedoch die Tatsache, dass fossile
Funde von Zwischenstufen der Artenentwicklung meistens fehlen. Gould bot
hierfür Anfang der Siebzigerjahre eine Interpretation an: Das unterbrochene
Gleichgewicht (punctuated equilibrum). Im Gegensatz zu den Gradualisten
verläuft die Evolution für die Punktualisten nicht graduell,
sondern episodisch, das heißt, lange Zeiten des Differenzierungsstillstandes
werden unterbrochen von starken Veränderungen. Paläontologisch
belegbar sind demnach lediglich die Phasen des evolutionären Gleichgewichts.
Leider kann man in der Evolutionstheorie nur schwer experimentieren.
Kürzlich wurde jedoch über ein Experiment mit dem Bakterium Escherichia
Coli berichtet, das - ausgehend von einer Zelle - über 30 000
Generationen vier Jahre lang verfolgt werden konnte. (Bild N° 1)
Bild N° 1: Bakterium Escherichia Coli über 30 000 Generationen
Das sich durch Teilung vermehrende Bakterium wurde in einem zuckerarmen
Medium gehalten. Es zeigte sich, dass die Zellgröße über
einige hundert Generationen konstant blieb, dann jedoch sprunghaft zunahm,
um wieder mehrere Generationen lang konstant zu bleiben, bis der nächste
Sprung in der Zellgröße folgte, dem sich eine neue Periode der
Größenkonstanz anschloss. Man gewinnt den Eindruck, als "warteten"
die Zellen während einer Periode regelrecht auf vorteilhafte Mutationen
und Selektionen, die die Zellgröße maximieren.
Das Größerwerden der Zellen lässt sich als Anpassung
an die eingeschränkten Nahrungs-Ressourcen deuten. Vorteile größerer
Biomasse liegen in höheren Energiereserven, die die Zellen schneller
wachsen und mehr Nachkommen produzieren lassen. So war in diesen Versuchen
auch die Fitness mit der Zellgröße positiv korreliert.
Zweifellos sind Vergleiche zwischen Evolutionsprozessen von Bakterien
(bei denen Mutationen die einzige Quelle für genetische Änderungen
bilden) und von Vielzellern (bei denen Rekombinationen und Mutationen das
Erbgut verändern) nicht unproblematisch. Das Beispiel zeigt jedoch,
dass punktuelle Evolution prinzipiell möglich und der experimentellen
Analyse zugänglich ist.